Vermehrt lese und höre ich die Worte: „Die Pandemie hat unsere Gesellschaft gespaltet. Die Pandemie hat uns entzweit. Die Pandemie reißt tiefe Gräben zwischen uns, es wird lange brauchen, sie zu überwinden.“ Jedes Mal irritieren mich diese Sätze. Die Pandemie ist ein Ereignis. Ein Ereignis, das da ist, beobachtbar ist, beschreibbar ist und aufgrund der definierten Kriterien als solches benannt wird. Das Ereignis selbst kann nicht spalten.
Die so genannte Spaltung passiert durch uns Menschen, durch die Reaktion auf ein Ereignis über unser Denken, Fühlen, Handeln. Und diese Reaktion geschieht nicht nur allein aus uns selbst heraus, sondern ist ein Ergebnis von Kommunikation und daraus resultierenden Gedanken, Gefühlen, Verhalten, Bewertungen. Wir übernehmen so gesehen das, was in die Kommunikation kommt. Unreflektiert, unbewusst, reflektiert, bewusst. Und so entstehen für uns neue Regeln des Miteinanders, die wir nicht alle einzeln miteinander besprechen und entscheiden, sondern die ein Ergebnis der Kommunikation sind. Wir erleben derzeit, dass sich diese Regeln nicht wie gewöhnlich in gesellschaftlichen Prozessen über Jahre entwickeln, sondern im Schnelldurchlauf aufgrund von Reaktionen auf die äußeren Einflüsse.
Kommunikativ wird im Rahmen der Pandemie in meiner Wahrnehmung sehr viel mit Angst und Schuld gearbeitet. Das mag gesellschaftliche Prozesse und das Etablieren von Regeln beschleunigen. Angst in Form von Vorsicht im Miteinander empfand ich sogar als nützlich, grad zu Beginn dieser Pandemie, als so vieles neu und unbekannt war. Ich nehme eine Angst- und Schuldrhetorik jedoch auf Dauer als destruktive Form der Kommunikation wahr, denn Schuld grenzt aus und sie vereinfacht und reduziert komplexe Sachverhalte auf scheinbar einfache Kausalitäten, wenn…dann…Diese Schuldrhetorik prägt unser Denken und Handeln wiederum. Dauerhafte Angst auf der individuellen Ebene kann subtilen Stress verursachen und sich negativ auf die Gesundheit auswirken. Und auch auf kollektiver Ebene ist ein Miteinander in Angst eher voller Spannung, Anspannung und Überspannung als von Entspannung, Ruhe und Gelassenheit geprägt.
Was also tun, um Spaltung zu überwinden?
Für mich persönlich reduziert sich eine so genannte Spaltung im sozialen Miteinander auf das gegenseitige Bewerten. Dabei gibt es sprachliche Töne, die Spaltung fördern können: Abwerten, Verurteilen, Belächeln, Bevormunden, Besserwissen… All diese Formen gehören in die Kategorie der asymmetrischen Art von Kommunikation, also dem Gegenteil von sich gegensätzliche Positionen respektvoll anhören und sind auf allen Meinungsseiten zu finden. Die ausgestrahlte Energie ist dabei in meiner Wahrnehmung genau dieselbe, unabhängig von den inhaltlichen Positionen. Und auch politische Entscheider und die medialen Berichterstatter bedienen sich sehr häufig einer stark wertenden Sprache und tragen so zur Spaltung mit bei.
Persönlich gilt im Miteinander während dieser Pandemie für mich eine Prämisse: Sehr achtsam mit anderen zu sein und ihre Bedürfnisse in der sozialen Interaktion in der derzeitigen Situation jeweils zu respektieren. Ohne Wertung. Letzteres ist jedoch die Königsdisziplin. Das größere Maß der gewünschten Vorsicht, z.B. in Bezug auf Abstand einhalten, Treffen, entscheidet dann. Spaltung muss meines Erachtens überhaupt nicht sein, wenn ich mein Gegenüber ernst nehme und umgekehrt. Wir dürfen uns jedoch alle damit auseinandersetzen, was diese Pandemie bzw. das Ereignis, die Kommunikation, die Regeln, persönlich in uns auslöst und mit uns macht und welche unserer in uns liegenden Themen durch die äußeren Umstände sichtbar werden und an die Oberfläche kommen. Wir können auf der individuellen Ebene über Krisen wachsen, wenn wir hinschauen. Und wir können lernen mit Unsicherheiten und dynamischen Veränderungen besser umzugehen.
Diese Pandemie spaltet uns nicht, wir tun es oder auch nicht.
Köln, 05. August 2021