Mir fällt seit Beginn der Pandemie auf, dass das Virus wie ein unsichtbarer Detektiv in der Welt viele gesellschaftliche, politische und wirtschaftliche Themen in jedem Land an die Oberfläche bringt, die schon vorher da waren, nun jedoch aus meiner Sicht kompakter sichtbar sind. Wir können hinschauen. Nicht nur auf ein Virus, das Infektionsgeschehen, seine Ausbreitung oder Eindämmung, die vielen Theorien, sondern auch auf alle Nebenschauplätze sowie soziale Verhaltensformen und – normen und uns selbst. Meine Zusammenfassung.

Es zeigt uns, dass wir die Lösungen auf Nationalstaatenebene suchen, statt in der Kooperation.
Es zeigt uns, dass selbst den reichsten Ländern der Welt das Mindestmaß an Schutzausrüstung fehlte.
Es zeigt uns, wie fragil die Abhängigkeitsstrukturen der globalen Wertschöpfungskette sein können.
Es zeigt uns unser ambivalente Verhältnis zu Älteren, die wir nun schützen und bisher weniger beachteten.
Es zeigt uns, dass wir bereit sind die Kinder in der Gesellschaft schnell zu vernachlässigen.
Es zeigt uns, wie schnell Regierungen auch handlungsfähig sein können.
Es zeigt uns, wie autokratische Systeme den Deckmantel der Gesundheit für den Ausbau ihrer Macht nutzen.
Es zeigt uns, dass Populisten ihre Feindbilder (für eine Zeit) abhanden kommen.
Es zeigt uns, wie schnell wir Verhaltensweisen als neue Normen annehmen.
Es zeigt uns, wie viel flexibler wir bestimmte Arbeitsprozesse organisieren können.
Es zeigt uns, wie sehr uns eingespielte Routinen von Lösungsideen abhalten.
Es zeigt uns, dass ein auf Sparsamkeit und Profit aufgebautes Gesundheitssystem schnell an seine Grenzen geraten und Leben kosten kann.
Es zeigt uns, was das Fehlen sozialer Sicherungssysteme für gravierende gesellschaftliche Folgen hat.
Es zeigt uns, wie sehr wir uns einfache und leicht nachvollziehbare Erklärungsmodelle wünschen.
Es zeigt uns, wie Laien zu wissenden Experten werden und andere in ihrem Verhalten zurechtweisen.
Es zeigt uns, wie schnell wir einzelne Schuldige finden, um uns selbst aus der Verantwortung zu ziehen oder auf uns zu schauen.
Es zeigt uns, wie viel Wut wir in uns tragen und wie wir diese im Außen ausleben, statt sie zu heilen.
Es zeigt uns, dass komplexe Fragestellungen keine einfachen Antworten haben können.
Es zeigt uns, dass wir wenig wissen und mit Unwissenheit lernen dürfen umzugehen.
Es zeigt uns, wie schnell sich ein Narrativ durchsetzen kann.
Es zeigt uns, dass wir einem Virus nicht entfliehen können.
Es zeigt uns, dass die komplette Kontrolle im Leben illusorisch ist.
Es zeigt uns die Missstände in Industrien auf und weist uns aufmerksam und wiederholt darauf hin.
Es zeigt uns, welche Produktions- und Arbeitsbedingungen wir für unseren bequemen Konsum aktiv unterstützen.
Es zeigt uns, wie sehr wir daran gewöhnt sind, auf Symptome zu schauen, sie dann zu behandeln, statt sie langfristig auch zu vermeiden.
Es zeigt uns, dass wir Prävention und Gesunderhaltung wenig Beachtung schenken.
Es zeigt uns, dass der dauerhafte Eingriff des Menschen in natürliche Lebensräume uns selbst trifft.
Es zeigt uns, dass unsere Luftverschmutzungen Krankheitsverläufe negativ beeinflussen können.
Es zeigt uns, welche Krankheitsbilder bei Betroffenen eine höhere Gefahr mit sich bringen.
Es zeigt uns, dass wir selbst durch unsere Lebensweise viele dieser Krankheitsbilder mit begünstigen.
Es zeigt uns, dass soziale Ungleichheit und Armut Krankheiten fördern können.
Es zeigt uns, wie bedrohlich Verzicht, Stillstand und Ruhe auf uns wirken können.
Es zeigt uns, wie sehr die Stille jedoch auch kurzfristig unser Bewusstsein für die Natur stärkte.
Es zeigt uns, wie sehr uns die Angst vor Krankheit und Verlust treibt.
Es zeigt uns, dass wir Langlebigkeit voraussetzen und den Tod als Teil des Lebens leugnen.
Es zeigt uns, wie labil unsere gesellschaftliche Resilienz in Krisen sein kann.
Es zeigt uns, wie irrational wir handeln, wenn Angst und Panik uns überkommt.
Es zeigt uns, wie wichtig es ist, auf andere zu achten und welchen positiven Effekt es haben kann.
Es zeigt uns, dass wir unsere Erkältung auch zukünftig Zuhause auskurieren, um uns selbst und andere zu schützen.
Es zeigt uns, wie angenehm es ist, den Einkaufswagen vom Hintermann nicht mehr in den Hacken zu spüren.
Es zeigt uns, dass für manche Menschen Distanz angenehmer als aufgezwungene Nähe ist.
Es zeigt uns, dass die Quarantäne für einige eine willkommene Abkehr gesellschaftlicher Verpflichtungen war.
Es zeigt uns, wie wenig wir zu uns selbst stehen und obiges für unser Leben selbstverständlich leben.
Es zeigt uns, dass vieles von dem, was nun an die Oberfläche kommt, schon vorher da war.
Es zeigt uns, dass wir erstmalig für ein übergeordnetes Ziel die Welt anhielten.
Es zeigt uns, was im Extremfall doch möglich ist.
Es zeigt uns viele Chancen für Veränderungen auf.
Es zeigt uns, dass wir Umwelt- und Klimathemen weiterhin als weniger bedrohlich ansehen.
Es zeigt uns, wir sehnen uns mehr nach der „alten Normalität“.
Es zeigt uns, dass während wir uns in Gedanken um die Zukunft vertieften, das Leben weiterging.

Köln, 24. Juni 2020

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